Normen und Vorschriften
Bauen mit Hausverstand
Anton Rieder verdeutlicht das Problem mit einem einfachen Beispiel aus der Praxis: „Als ich vor fast 40 Jahren die HTL begonnen habe, benötigte man für einen Kubikmeter Beton 50 Kilogramm Bewährung. Heute sind es 100 Kilogramm. Der Tiroler Bauunternehmer und Bundesinnungsmeister-Stellvertreter des Baugewerbes. „Wir haben bessere Planungssoftware und bessere Materialien – und dennoch brauchen wir immer mehr. Da stimmt etwas nicht.“
Dickicht an Baustandards
Das, was nicht stimmt, hat Rieder bereits ausfindig gemacht: Ein stetig wachsendes Dickicht an Baustandards in Form von Bauordnungen oder technischen Normen, die das Bauen immer aufwendiger und teurer machen – und siehe das erwähnte Beispiel – es auch erschwert, den CO₂-Fußabdruck des Bauwesens zu reduzieren. Rieder: „Normen kennen leider nur eine Richtung: Es werden immer mehr.“ Bislang jedenfalls. Denn Rieder ist Initiator des Forschungsprojekts „Bauen außerhalb der Norm“, in dem untersucht wurde, inwieweit von Vorschriften abgewichen werden und dabei gleichzeitig eine vergleichbare Qualität in der Umsetzung von Bauprojekten erreicht werden kann. Zudem wurde analysiert, welche gesetzlichen Maßnahmen hierfür notwendig wären. Vorbild für diesen rechtlichen Rahmen ist der sogenannte „Gebäudetyp E“ in Deutschland. Er wird in Bayern bereits angewandt und soll 2025 bundesweit eingeführt werden. Dazu Rieder: „Wir schauen etwas neidisch nach Deutschland.“
Aber das soll sich ändern. An dem Forschungsprojekt haben neben dem Baugewerbe auch die Kammer der Ziviltechniker, die Rechtsanwaltskanzlei Heid & Partner und die Universität Innsbruck teilgenommen. Gerhard Fröch, Assistenz-Professor an der Uni Innsbruck, hat im Zuge des Projekts mehrere Beispiele ausgearbeitet, die zeigen, wie man durch ein „sinnvolles Abweichen von Normen eine ausreichende Qualität, aber mit geringeren Kosten als mit den Standard-Anforderungen, erreichen kann“, so die Projektpartner in einem Statement.
In einem Beispiel haben Fröch und seine Mitarbeiter*innen den Bau einer massiven Geschossdecke berechnet. In der herkömmlichen Bauweise nach der DIN 4109-5 benötigt man für diese Decke 864 kg Stahl, 48 m² Schalung und 8,64 m³ Beton. Die Decke würde 5.091 Euro kosten. Alternativ wurde kalkuliert, welchen Effekt die Reduktion der Stahlbetonschicht von 18 auf 14 cm haben würde. Das Ergebnis: Die Trittschalldämmung würde sich um 4 bis 6 Dezibel reduzieren, die Tragfähigkeit wäre aber nicht beeinträchtigt. Die Einsparung bei Beton und Stahl hätte signifikante Effekte: Eine Reduktion der Kosten um 9 Prozent und der CO₂-Emissionen um 19 Prozent.
Die Beispiele würden zeigen, „dass Kosteneinsparungen relativ leicht möglich sind, ohne dabei das übliche Sicherheitsniveau für die Nutzer zu beeinträchtigen“, meint Fröch. „Es geht um die Nutzung von Sicherheitspuffern, die Fokussierung auf den Zweck eines Bauteiles beziehungsweise um die Rücknahme von Komfortstandards auf Wunsch des Bauherrn. Dabei können Kosten eingespart werden, ohne gleichzeitig die geltenden Sicherheitsstandards zu verlassen.“
Die Rechtsanwaltskanzlei Heid & Partner hat sich angeschaut, was rechtlich notwendig wäre, damit diese technischen Möglichkeiten genutzt werden können. Die naheliegende Lösung: Es könnte – wie in Deutschland beim Gebäudetyp E – eine Bestimmung im Baurecht verankert werden, die „dem Bauwerber einen Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Bewilligung trotz Abweichung von technischen Normen gibt“, erläutert Daniel Deutschmann, Projektleiter bei Heid & Partner. Dabei, so Deutschmann weiter, müsste mit einem Gutachten „nachgewiesen werden, dass die wichtigsten Sicherheitsstandards – Standsicherheit, Brandschutz, Schallschutz usw. – eingehalten werden“. Zudem könne man im Zivilrecht verankern, dass es zulässig ist von Normen abzuweichen. Deutschmann: „Dies immer mit der Auflage, dass die zwingenden baurechtlichen Bestimmungen und behördlichen Anordnungen eingehalten werden.“
Die Kammer der Ziviltechniker hat in engem Austausch mit ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen den Gebäudetyp E3 entwickelt, der so rasch wie möglich vom österreichischen Gesetzgeber genehmigt werden soll. Dieser Gebäudetyp sieht vor, „dass man teilweise außerhalb der bestehenden Normen agieren kann und dennoch dieselben Qualitäten und Sicherheitsstandards erreicht“, erklärt Architekt Guido Strohecker. Er setzt auf ein Umdenken, wenn es darum geht, Normen zu definieren und sie in der Praxis umzusetzen: „Normen tragen einen Teil zum Stand der Technik bei. Das ist an sich gut aber eben auch ein Problem, da der Stand der Technik sich schneller wandelt als die Normen. Zu viele Normen können Widersprüche und Rechtsunsicherheit schaffen.“
Die Beteiligten des Forschungsprojekts betonen, dass die Anwendung des Gebäudetyps E3 auf Freiwilligkeit beruhen soll. Sie verweisen darauf, dass das Komfortniveau von Gebäuden in Deutschland und Österreich bislang deutlich höher ist als in anderen europäischen Ländern: „Es ist eine Frage, die sich die Gesellschaft stellen muss: Welchen Komfort wollen wir und was sind wir bereit dafür zu zahlen?“, meint Innungsmeister-Stellvertreter Rieder. Der Konsument solle die Möglichkeit erhalten, zwischen unterschiedlichen Produkten oder Komfortniveaus auszuwählen – dies sei in anderen Branchen völlig normal. „Am Bau gibt es bislang nur die Business-Class“, so Rieder.
Er und seine Mitstreiter verstehen das Forschungsprojekt als „Startschuss“ auf dem Weg zum „Bauen mit Hausverstand“. Sie hoffen, dass der neue Gebäudetyp E3 rasch Wirklichkeit wird. Rieder: „Wenn das den Deutschen gelingt, dann sollte uns das zweimal gelingen.“